Prof. Dr. Kremin-Buch Vorbereitung.doc
An die Teilnehmer des Seminars „Rechnungslegung nach HGB und IAS/IFRS"
in Lima (16.-19.8.2005)
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr auf unser gemeinsames Seminar und möchte Ihnen im Vorfeld einige Informationen zukommen lassen.
Ziel der Veranstaltung ist, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der deutschen Rechnungslegung und den europäischen Standards herauszuarbeiten. Wir werden dazu auf die jeweiligen Bilanzierungsregeln eingehen und unser Wissen anhand zahlreicher Fallstudien vertiefen.
Ein besonderes Augenmerk werden wir auf Risikopositionen in der Bilanz richten, die für die Beurteilung der Güte von Unternehmen von entscheidender Bedeutung sind. Nach IAS/IFRS gibt es wesentlich mehr Risikopositionen als nach dem HGB. Zu denken ist hier z.B. an die erfolgswirksame Aktivierung von Entwicklungskosten. Auch hier werden wir nicht im Theoretischen stecken bleiben, sondern die Sachverhalte anhand von Auszügen aus den Geschäftsberichten diverser Unternehmen nachvollziehen.
Nachfolgend schicke ich Ihnen einige Zeilen zum Thema „HGB versus IAS/IFRS". Ich hoffe, Ihnen damit einen kleinen Einblick in die Unterschiedlichkeit der Bilanzierungswelten vermitteln zu können - natürlich mit dem Hintergedanken, Sie ganz gespannt auf unser Seminar zu machen.
Bis August verbleibe ich mit herzlichen Grüßen von Frankfurt nach Lateinamerika
Ihre
Beate Kremin-Buch
Prof. Dr. Kremin-Buch Vorbereitung.doc
HGB versus IAS/IFRS
Nationale und Internationale Regelwerke
In Deutschland sind bei der Bilanzierung die GoB (= Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung / Bilanzierung), das HGB (= Handelsgesetzbuch), die relevanten Steuergesetze und neuerdings auch die DRS (= Deutsche Rechnungslegungsstandards) zu beachten. Die DRS haben die Aufgabe, die deutsche Rechnungslegung an internationale Standards anzugleichen. Dadurch soll die deutsche Rechnungslegung „konkurrenzfähiger" werden. Die DRS haben auf der Ebene des Einzelabschusses GoB-Charakter, sind also verbindlich einzuhalten. Auf Konzernebene gelten sie nur als vermutete GoB, d.h. sie haben keinen klaren Verpflichtungscharakter. Aus diesem Grund werden sie von deutschen Unternehmen im Konzernabschluss gelegentlich auch ohne Schuldbewusstsein verletzt. Beispiele:
Seit dem 1.1.2001 gilt der DRS 4, der für alle Konzerne in Deutschland für den goodwill eine Ansatzpflicht mit erfolgswirksamer Abschreibung über eine Nutzungsdauer von maximal 20 Jahren vorsieht.
Gleichwohl hat die WCM (eine der ältesten Aktiengesellschaften Deutschlands und ein Investmenthaus mit den Geschäftsfeldern Wohnimmobilien und Beteiligungen) im Konzernabschluss 2002 und 2003 noch die erfolgsneutrale Verrechnung des goodwill vorgenommen.
Die Walter-Bau-AG wendete im Konzernabschluss 2002 und 2003 sogar die ratierliche erfolgsneutrale Verrechnung mit den Rücklagen an und gibt im Anhang ganz offen zu, damit den DRS 4 zu verletzen. Solche Informationen sind immer ein Alarmsignal. Wie Sie sicher wissen, ist die Walter-Bau-AG in 2005 insolvent geworden und wird nun von der österreichischen Strabag übernommen. Der Niedergang von Walter Bau kostet 3000 Stellen.
International gibt es diverse Bilanzierungsregeln. Neben den US-GAAP (= US-Generally Accepted Accounting Principles) und den IAS (International Accounting Standards) – die neuerdings IFRS (= International Financial Accounting Standards) heißen, gibt es Ungarian-GAAP, French-GAAP etc.. Relevant für deutsche Unternehmen sind nur US-GAAP (wenn die Unternehmen an der NYSE gelistet werden wollen) und IAS/IFRS. Im Unterschied zur deutschen Rechnungslegung ist international der Einfluss steuerlicher Gesetzgebung auf den handelsrechtlichen Abschluss äußerst gering. D.h., ein Maßgeblichkeitsprinzip und vor allem eine umgekehrte Maßgeblichkeit gibt es international so gut wie nicht.
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Probleme der deutschen Rechnungslegung auf internationalen Kapitalmärkten
Immer mehr Unternehmen sind nicht nur auf dem nationalen Güter- und Dienstleistungsmarkt tätig, sondern agieren auch auf den internationalen Märkten. Damit ist ein wachsender Kapitalbedarf verbunden. Zunehmend versuchen die Unternehmen (zuerst die damalige DaimlerBenz AG) diesen wachsenden Kapitalbedarf über internationale Kapitalmärkte zu decken. Dort ist die deutsche Rechnungslegung aber äußerst umstritten und trotz der DRS nicht anerkannt. Unserer Rechnungslegung wird vorgeworfen,
zuviele Bilanzierungs- und Bewertungswahlrechte zu haben,
in zu hohem Maße steuerlichen Einflüssen zu unterliegen
und vor allem viel zu viele Möglichkeiten zur Bildung stiller Reserven zu haben.
In der Tat sind bzw. waren erhebliche stille Reserven in den Bilanzen deutscher Unternehmen versteckt. So betrugen z.B. die stillen Reserven im Finanzanlagevermögen der Hypo- und Vereinsbank im Jahr 1999 6,0 Mrd. Euro!
Dominierende Rechnungslegungsgrundsätze in HGB und IAS/IFRS
Die vielfältigen Möglichkeiten des deutschen Rechts zur Bildung stiller Reserven resultiert daraus, dass in der deutschen Rechnungslegung der Grundsatz der Vorsicht dominierend ist. Die Dominanz folgt daraus, dass das deutsche Recht gläubigerschutzorientiert ist. Diese Orientierung ergibt sich daraus, dass deutsche Unternehmen vorwiegend fremdfinanziert sind. In Deutschland wird häufig argumentiert, dass stille Reserven im Sinne des Gläubigers sind, weil sie bei der Zerschlagung eines Unternehmens zusätzliches Schuldendeckungspotenzial darstellen. International ist die Bildung stiller Reserven dagegen äußerst umstritten. Die Bildung stiller Reserven lässt aus dieser Sicht keine „fair presentation" der Unternehmen zu, weil sie
die Vergleichbarkeit der Jahresabschlüsse erschwert,
die Vermögenslage nicht richtig darstellt,
zur Gewinnglättung (income smoothing) missbraucht werden kann,
bzw. die Hebung stiller Reserven Unternehmenskrisen verdeckt, weil die Unternehmen noch Erfolge zeigen, während schon Verluste erwirtschaftet werden.
Die internationale Rechnungslegung versucht, die Bildung stiller Reserven möglichst zu vermeiden. Es dominiert nicht das Vorsichtsprinzip, sondern das Periodisierungsprinzip (accrual principle). Es soll insbesondere die Investoren (Eigenkapitalgeber) schützen, indem es dafür sorgt, dass die Periodenergebnisse „richtig" dargestellt werden. Denn nur „richtige" Informationen können ein Entscheidung zur Investition in ein Unternehmen sinnvoll untermauern. „Richtig" bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Erträge und Aufwendungen in den Perioden erfolgswirksam erfasst werden, in die sie wirtschaftlich gehören. Die Investororientierung der internationalen Rechnungslegung resultiert daraus, dass sich Unternehmen international eher über den Kapitalmarkt als über Banken finanzieren.
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Die Dominanz des Periodisierungsprinzips kann aber zum Ausweis unrealisierter Gewinne führen (was nach deutschem Recht auf Grund der Dominanz des Vorsichtsprinzips unmöglich ist). Ein Beispiel für den Ausweis unrealisierter Gewinne sind Fertigungsaufträge, die nach der Methode „Percentage of Completion" abgerechnet werden. Hier werden den bis zum Bilanzierungszeitpunkt angefallenen Aufwendungen die Umsatzerlöse (auch ohne Fakturierung) gegenübergestellt, die dem Fertigstellungsgrad entsprechen. Beispiel: Ist der Fertigstellungsgrad 50%, werden 50% der vereinbarten Erlöse erfolgswirksam vereinnahmt. Das Problem ist offensichtlich: Treten in späteren Perioden die unrealisierten Gewinne nicht ein, z.B. weil es Kostenüberschreitungen oder Mängelrügen gegeben hat, wurden im Zweifel Gewinne ausgeschüttet, die nicht wirklich vorhanden waren. In solchen Fällen erfolgt die Gewinnausschüttung aus der Substanz eines Unternehmens und gefährdet nach deutscher Auffassung den Fortbestand desselben.
Kapitalaufnahmeerleichterungsgesetz (KapAEG) – verabschiedet 1998
Der deutsche Gesetzgeber hatte in Folge der Internationalisierung folgende Probleme:
Er wollte den Unternehmen den Zugang zu internationalen Kapitalmärkten eröffnen.
Aber er wollte auch nicht das Vorsichtsprinzip unterlaufen, um den traditionellen Gläubigerschutz der deutschen Rechnungslegung zu erhalten.
Er suchte und fand folgenden Kompromiss:
Er verabschiedete 1998 das KapAEG und öffnete damit das HGB im § 292a für die internationale Rechnungslegung. Der § 292a sieht vor, dass Unternehmen, die ihren Konzernabschluss nach internationalen Regelungen aufstellen (dazu gehören nur IAS/IFRS und US-GAAP, nicht aber z.B. Ungarian GAAP oder French GAAP), von der Aufstellung eines Konzernabschlusses nach dem HGB befreit sind. Allerdings ist bzw. war der § 292a bis zum 31.12.2004 befristet. Die EU hat in Ausnutzung diverser Bilanzskandale in den USA (z.B. Enron) die Gelegenheit genutzt und in einer EU-Verordnung festgelegt, dass von 2005 an alle kapitalmarktorientierten (börsennotierten) Unternehmen in der EU ihren Konzernabschluss zwingend nach IAS/IFRS aufstellen müssen. Wohlgemerkt: Es geht nur um den Konzernabschluss, nicht den Einzelabschluss! Für den deutschen Gläubigerschutz ist die Aufstellung des Konzernabschlusses nach internationalen Regeln akzeptabel, weil der Konzernabschluss in Deutschland nur eine Informationsfunktion hat. Das heißt, er soll ausschließlich über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Konzerns berichten. Dagegen hat unser deutscher Einzelabschluss neben der Informationsfunktion über die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Konzernmutter noch weitere Aufgaben. Er soll nämlich eine Gewinnverteilung (Ausschüttungen, Steuern) gewährleisten, die langfristig die Unternehmenssubstanz sichert und genug Schuldendeckungspotenziel zum Schutz der Gläubiger im Unternehmen belässt. Weil der Einzelabschluss auch diese Aufgabe hat, ist er – zumindest derzeit noch – auch weiterhin nach dem HGB aufzustellen. Es kommt also auch in der Zukunft zu einem Nebeneinander von nationaler und internationaler Rechnungslegung.
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Massive Ergebnisunterschiede
Die Anwendung der deutschen Rechnungslegung einerseits und der internationalen Rechnungslegung andererseits kann zu dramatischen Unterschieden in der Darstellung der Performance ein und desselben Unternehmens führen. Ergebnisverbesserungen zwischen 400% und 500% sind beim Übergang auf internationale Rechnungslegung wegen der Möglichkeiten zum Ausweis unrealisierter Gewinne keine Seltenheit. Das macht deutlich, dass man sich in den Rechnungssystemen sehr gut auskennen muss, wenn man Unternehmen anhand ihrer Jahresabschlüsse zutreffend beurteilen möchte.